Parlamentarischer Abend 2006

«Die Kanti ist kein Dampfkochtopf»

Der kantonale Mittelschullehrerinnen- und -lehrer-Verband St. Gallen diskutierte mit Parlamentariern

St. Gallen. Welchen Wert hat das Gymnasium in einer sich rasant verändernden Bildungslandschaft? Mittelschullehrer legten Politikern dar, warum ihr schlechtes öffentliches Ansehen und die knappen Ressourcen der Qualität schadeten.

Quelle: http://old.tagblatt.ch/archivsuchepop/detail.jsp?artikel_id=1138785

KARIN FAGETTI

Es gibt Berufsmittelschulen, Fachhochschulen, Fachschulen, Fachmittelschulen, Wirtschaftsmittelschulen, Gymnasien, Hochschulen und Universitäten – der Kompass in dieser vielfältigen Bildungslandschaft muss gut geeicht sein, damit Studierende, Eltern, Politiker und Lehrer die Orientierung nicht verlieren. Um mehr Klarheit in den Fragen «Welche Schule für welches Berufsziel?» und «Was ist fundierte Allgemeinbildung wert?» zu schaffen, diskutierten am Dienstagabend der Vorstand des Mittelschullehrerinnen- und -lehrer-Verbandes St. Gallen (KMV) mit Parlamentariern. Wissen ist nicht gleich Bildung, und Bildung gibts nicht zum Nulltarif – darin waren sich alle einig.

Mehr Ressourcen

In einer kurzen Tour d'Horizon legte Mathias Gabathuler, Präsident des KMV St. Gallen, die heiklen Punkte auf den Tisch: Qualität brauche Ressourcen; das von Politikern geförderte immer schlechtere Ansehen der Lehrer in der Öffentlichkeit schade der Sicherung des Qualitätsstandards fundamental. Gegensteuer könnten hier nur gemeinsame Gespräche geben.

Die Lehrer erklärten den anwesenden Politikerinnen und Politikern, dass Bildung mehr als pragmatische Wissensanhäufung sei und anregendes Zweifeln zu jeder guten gymnasialen Bildung gehöre. Gerade in einer orientierungslosen und ökonomisierten Gesellschaft müsse man sich das leisten – auch im Sinne einer Orientierung gebenden, verantwortungsbewussten Elite, die dank gymnasialer Bildung heranreifen sollte.

Das Bekenntnis zur gymnasialen Bildungselite und gegen eine Kultur der Mittelmässigkeit (Massengymnasium) wurde kaum in Frage gestellt. Nicht alle müssten ans Gymnasium, hiess es, aber die intellektuell Neugierigen dürfe man nicht abschrecken. «Sportlich und musisch Begabte werden gefördert», sagte Mathias Gabathuler, «aber auch intellektuell Begabte verdienen Förderung.»

Keine Hochschulreife?

Einzelne Politiker zweifelten dann aber an der Hochschulreife der Gymnasiasten, wenn Universitäten später die (verpasste) Selektion vornehmen müssten. Hans Peter Dreyer, Präsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG), zweifelt nicht an der Hochschulreife der Abgänger. Zwei wesentliche Dinge müssten Gymnasiasten beim Abschluss können: wissenschaftlich arbeiten, also kausallogisch analysieren, und mit der hiesigen Kultur und ihrer Geschichte vertraut sein. Beide Punkte würden nach wie vor erfüllt, ist Paul Eigenmann, Vizepräsident des KMV, überzeugt. «Aber das Gymnasium ist kein Dampfkochtopf», sagte er, Bildung entziehe sich per definitionem einer zu starken Ökonomisierung und komme oft erst Jahre später voll zum Tragen.

Die Voten der Politiker an diesem Parlamentarierabend bestätigten das babylonische Durcheinander im Bildungswesen. CVP-Kantonsrätin Theres Engeler ortet die Misere in der instabilen Familie. Zudem seien Kinder faul geworden. SVP-Mann Paul Meier hingegen glaubt nicht, dass alle gymnasial geförderten Rohdiamanten einmal glänzen werden. FDP-Kantonsrat Marc Mächler: «Gymnasium darf elitär sein.» Und SP-Politikerin Anita Blöchlinger Moritzi wehrte sich gegen den Vorwurf, die SP wolle alle ins Gymnasium schleusen. «Wir dürfen mit der gymnasialen Matura kein neues Proletariat schaffen, das dann gar nichts kann.» Beispielsweise Ärzte ausbilden, die dann Taxi fahren (müssen).

Barometer der Verunsicherung

An diesem Abend wurden keine wesentlich neuen Erkenntnisse aufgetischt. Aber die Diskussion war Barometer der aktuellen allgemeinen Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die womöglich viel weitere Kreise zieht als bis zur nächsten Bildungsrevision. Mathias Gabathuler hatte es zu Beginn angesprochen: Längst verbreite sich Wissen und Bildung nicht nur via Schulzimmer und Bücher, sodass Lehrer heute in Konkurrenz zur multimedialen Welt unterrichteten und ihnen gut informierte Studierende mit unverdautem Wissen gegenübersässen.

 

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